"Demokratie leben und leiden"

11.07.2023

Ein Pressebericht über den Zukunftskongress Europa in Bad Marienberg Europas Zukunft geht uns alle an, ob wir wollen oder nicht. Unsicherheit und Orientierungslosigkeit prägen das aktuelle politische Klima und lassen Europa und seine Politik mehr als zuvor in den Mittelpunkt rücken. Doch was „kann“ Europa? Wie „funktioniert“ Europa? Und was hat das Ganze mit einem selbst zu tun? Diesen und weiteren Fragen versuchten die Schüler:innen der zehnten Klassen in Bad Marienberg auf den Grund zu gehen.

Hierzu absolvierten sie einen mehrtägigen Workshop, der sich zunächst mit den Grundlagen der Europapolitik beschäftigte und seinen Höhepunkt in einem Planspiel fand. In diesem mussten die Schülerinnen und Schüler in verschiedene politische Rollen schlüpfen und einen Kongress vorbereiten und durchführen, um so die Abläufe demokratischer Prozesse unmittelbar zu erfahren, zu hinterfragen und zu diskutieren.

Das grundlegende Thema war die Zukunft Europas und die Schüler:innen konnten im Zuge dessen für sie relevante Themen wählen, die dann in der Sitzung diskutiert werden sollten. Die Schüler:innen repräsentierten hierbei verschiedene Gremien der europäischen Politik, wie z.B. die EU Kommission usw., und die Länder Europas, die nun politische Entscheidungen fällen mussten.

Pressebericht:
Drei Stunden. Drei Stunden schlechte Luft. Drei Stunden Hitze. Drei Stunden Diskussion. Was für den Einen politischer Alltag bedeutet, war für die Teilnehmer:innen des „Kongresses Zukunft Europa“ in Bad Marienberg eine Erfahrung und Herausforderung zugleich. Auf der Agenda standen schwergewichtige Themen, deren Relevanz auch an der knisternden Stimmung der Diskussionsführung spürbar war. So stellte sich das Gremium zunächst der Frage nach der Migrationspolitik Europas – ein Thema, das die Gemüter nicht nur gegenwärtig bewegt, sondern auch zukünftig für Sprengstoff sorgen wird. Die Repräsentant:innen der Kommission gaben hierzu den Vorschlag zur Abstimmung, ob die zukünftige Migrationspolitik entweder einheitlich oder national geregelt werden sollte. Der reale gesellschaftliche Diskurs fand auch hier seinen Widerhall in den Positionen der einzelnen Länder, wobei sich vor allem die Schwierigkeit von Lösungsansätzen zeigte. So sprachen sich die Vertreter:innen Deutschlands für eine einheitliche Lösung aus, bei der alle Länder solidarische und anteilige Verantwortung tragen müssen, während auf der anderen Seite sich bspw. Ungarn klar dagegen positionierte, was mit Sicherheitsaspekten und Werteerhaltung begründet worden ist. Letztlich lehnte der Kongress eine einheitliche übernationale Lösung ab, da keine Einstimmigkeit erzielt werden konnte. Allerdings wurde im Anschluss durch das Präsidium die Möglichkeit eröffnet, mögliche Kooperationen zwischen ähnlich denkenden Ländern eingehen zu können und somit außerparlamentarische Lösungen auszuloten.

Auch der zweite Tagesordnungspunkt verhieß Spannung und hitzige Debatten, was sich ebenfalls bestätigen sollte. Die Kommission brachte folgenden Vorschlag ein: „Die EU-weite Aufstockung der Frauenquote in zweijährigen Abständen auf bis zu 50%“ – ein Punkt, auf den sich die Niederlande stürzten und sich nicht nur für eine Gleichberechtigung auf allen Ebenen aussprachen, sondern die Diskussion um die sogenannte „Genderdebatte“ erweitern wollten, was zunächst mit einem Raunen im Saal quittiert wurde und von Seiten des Präsidiums auf einen späteren Zeitpunkt der Debatte verschoben worden ist. Dies wiederum stieß auf Unverständnis durch mehrere Fraktionen, insbesondere Deutschland und Portugal. Letztlich drehte sich diese Diskussion öfters im Kreis und wirkte auf den Zuschauer teilweise etwas ermüdend, da die Debatte den Kern des Problems nicht traf und die ablehnenden Positionen Ungarns und Italiens übergangen wurden. So wurden Argumente, die ein sehr konservatives Frauenbild transportieren, nicht zum Gegenstand der Debatte. Abschließend einigte sich das Plenum einstimmig darauf, dass eine einheitliche Frauenquote in politischen Tätigkeitsfeldern ermöglicht werden soll, aber diese in anderen gesellschaftlichen Bereichen freiwillig und auf nationaler Ebene entschieden werden sollten.

Der dritte Tagesordnungspunkt versprach ebenfalls viel Diskussionssprengstoff, entpuppte sich jedoch als „Blindgänger“ und wurde sehr schnell abgehandelt. Der Vorschlag der Kommission lautete: „500 Euro für alle EU-Bürger ab 18 Jahren“ und griff somit die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen auf, das momentan den gesellschaftlichen Diskurs beschäftigt. Italien, Portugal und die Niederlande unterstützten diesen Vorschlag, da sie sich dadurch mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit versprechen. Allerdings divergierten ihre Finanzierungsansätze erheblich, was die Schwierigkeit der Diskussion offenbarte und eine einstimmige Ablehnung des Antrags zur Folge hatte.

Der letzte Tagesordnungspunkt bestand aus zwei Teilanträgen und umfasste eine Änderung der Mehrheiten bei Abstimmungen und die mögliche Einführung eines supranationalen EU -Außenministerpostens. Wie beide Themen erahnen ließen, forderte der Abstraktionsgrad noch einmal alles von den Teilnehmer:innen, wobei sich einige Fraktionen völlig aus der Debatte zu lösen schienen. Andererseits offenbarte dieses Themenfeld, wie eine gemeinsame Politik an den nationalen Befindlichkeiten scheitern kann, sobald ein Land seine nationale Stellung im Konzert der Länder bedroht sieht. So sprach sich bspw. Frankreich für die Schaffung eines EU -Außenministers aus, aber nur, wenn dieser auch von Frankreich gestellt werden sollte. Diese Haltung provozierte die anderen Länder und Gremien, allen voran die Vertreter des europäischen Parlaments, die in diesem Ministerium eine Beschneidung ihrer eigenen Kompetenzen wahrnahm. Kurzum: Dieser Antrag schien von Anfang an zum Scheitern verurteilt und wurde abgelehnt.

Nachbetrachtung:
Die Luft war stickig und die Köpfe rauchten – die Schüler:innen der zehnten Klasse haben nun am eigenen Leib erfahren dürfen, was es heißt Politik als Beruf auszuüben. Es ist davon auszugehen, dass sich die Vorstellungen über dieses Berufsfeld bei vielen geändert haben und sie den Wert dieser Arbeit nun zumindest besser einschätzen können.

Die politische Bildungsfahrt ist keine Klassenfahrt im eigentlichen Sinne und soll es auch nicht sein. Sie dient der politischen Bildung und soll Schüler:innen für die Komplexität politischer Arbeit sensibilisieren und sie möglichst motivieren, sich selbst am demokratischen Prozess bewusster zu beteiligen. Hierzu ist der Perspektivwechsel, aus der Sicht eines Politikers Entscheidungen zu treffen, Positionen zu vertreten und zu Kompromissen zu gelangen, sehr gewinnbringend und führt zur Bewusstwerdung politischer Chancen und Grenzen und sei es nur um am Ende festzustellen, dass Demokratie „leben“ und „leiden“ zugleich bedeuten kann.

Stefan Heimann, Tutor 10a

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